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  • AutorenbildDr. med. Stefan Hübel

Haftung aufgrund von Gewebeprobenvertauschung und alternative Kausalität

Das Landgericht Göttingen hat in seinem Urteil vom 13.06.2017 (Az. 12 O 16/14) festgestellt, dass der Anwendungsbereich des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB eröffnet ist, soweit bei feststehender schuldhafter Pflichtverletzung eines Schädigers und einer weiteren, potentiell als Schädigungsursache in Betracht kommenden Handlung eines Dritten feststeht, dass die Handlung des Dritten – hätte er nachweislich den Schaden durch seine Handlung herbeigeführt – diese Handlung ebenso als schuldhaft und rechtswidrig zu werten wäre. Im vorliegenden Sachverhalt hatte sich der Kläger bei dem Beklagten, einem niedergelassenen Hautarzt (Erstschädiger), vorgestellt. Der Beklagte nahm zwei Biopsien und übersandte diese zur weiteren Befundung an einen Pathologen (Nebenintervenient, Zweitschädiger). Hinsichtlich der Veränderung an der Schulter des Klägers wurde ein malignes Melanom diagnostiziert, im Bereich des Nackens ein Basaliom. Daraufhin unterzog sich der Kläger einer Operation zur Entfernung der Hautveränderung an der Schulter. Das suspekte Hautareal wurde – wie üblich – mit einem Sicherheitsabstand von 2 cm entfernt, zugleich wurde eine Sentinel-Lymphonodektomie axillär rechts durchgeführt. Der Kläger vermutete bereits zum Zeitpunkt der Operation eine Vertauschung der Gewebeproben und bat aus diesem Grund – von sich aus – um eine Rebiopsie der Hautveränderungen im Bereich des Nackens. Im weiteren Verlauf bestätigte sich die Gewebeprobenvertauschung, sodass das maligne Melanom dem Bereich des Nackens zuzuordnen war. Entsprechend musste eine zweite Operation durchgeführt werden, die der o. g. Erstoperation entsprach. Die Lymphknotenexstirpation erfolgte dabei cervical. Aufgrund der (unnötigen) Erstoperation machte der Kläger nun Ansprüche gegenüber dem Beklagten geltend. Er hielt dem Beklagten vor, dass dieser bei der Probeentnahme keine ordnungsgemäß gekennzeichneten Behälter benutzt habe. Der Kläger hatte bereits mit der Klageschrift auch dem Pathologen den Streit verkündet, der auf Seiten des beklagten Hautarztes dem Rechtsstreit beitrat. Das Landgericht kam nach der Beweisaufnahme inkl. eines eingeholten fachdermatologischen Sachverständigengutachtens sowie der Anhörung des Sachverständigen zu dem Ergebnis, dass der Beklagte dem Kläger gegenüber schadensersatzpflichtig sei. In der Urteilsbegründung führte die Kammer aus, dass dem Beklagten ein Behandlungsfehler vorzuhalten sei, da er die Gewebeproben vertauscht habe. Das Vorgehen des Beklagten sei nicht ausreichend gewesen, um eine Vertauschung der Gewebeproben sicher zu verhindern. Im vorliegenden Fall waren die Röhrchen hinsichtlich der Probeentnahme vorbereitet worden, jedoch nicht ausreichend beschriftet gewesen. Sie enthielten lediglich den Namen des Klägers und eine fortlaufende Nummer. Anschließend seien zwei Formulare für den Pathologen ausgedruckt worden, die sodann mit der Lokalisation der Proben beschriftet wurden. Die hier ebenfalls zur Beschriftung der Proben eingesetzte Arzthelferin musste gleichzeitig noch die Operationswunden des Klägers versorgen, sodass der hier entstehende zeitliche Abstand von 10 bis 30 Sekunden bereits ausreichte, um die Proben zu verwechseln. Auch war zu berücksichtigen, dass das Begleitformular im weiteren Verlauf, d.h zu einem späteren Zeitpunkt zum Teil beschriftet wurde. Insgesamt wertete die Kammer, sachverständig beraten, das Vorgehen bei dem Beklagten hinsichtlich der Probenentnahme und deren Kennzeichnung als nicht ordnungsgemäß. Dies stelle einen Verstoß gegen die pflichtgemäße Praxisorganisation dar. Der Sachverständige hatte zwar ausgeführt, dass eine Probenverwechslung letztendlich nie ganz auszuschließen sei, die Kammer folgte dieser Einschätzung jedoch nicht. Die Kammer orientierte sich hier an dem von dem Sachverständigen statuierten Standard und folgte seiner persönlichen Einschätzung hinsichtlich der Praxisorganisation des Beklagten. Die Kammer sah eine Risikoquelle dahingehend, dass die Röhrchen nicht von dem Beklagten, sondern von seiner Arzthelferin kontrolliert wurden. Auch die Notierung der Entnahmereihenfolge sei bei der Entnahme von mehreren Proben nicht ausreichend geregelt. Diese beiden Risikoquellen hätte der Beklagte leicht verhindern können, z. B. auch durch ein Vier-Augen-Prinzip.

Die Kammer hat im vorliegenden Fall nicht verkannt, dass sich letztendlich nicht tatsächlich beweisen lasse, ob es zu einer Vertauschung der Gewebeproben bei dem Beklagten gekommen ist oder bei dem Nebenintervenienten. Allerdings vertritt die Kammer hier die Auffassung, dass das Vertauschen der Proben bei dem Beklagten gemäß § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB zu Gunsten des Klägers vermutet werden müsse. Diese Vorschrift war nach Ansicht der Kammer anwendbar, da selbst bei Unterstellung, dass die Proben bei dem Nebenintervenienten vertauscht worden sind, dies auch bei diesem die Verwirklichung eines vollbeherrschbaren Risikos darstellen würde und gleichermaßen als Fehler zu werten sei, auch wenn dies ebenfalls nicht positiv feststellbar gewesen wäre (eine Überprüfung von Seiten des Landgerichts erfolgte nicht). Der Schutzzweck der Norm bestehe darin, dass – soweit eine schuldhafte Pflichtverletzung eines jeden Beteiligten nicht feststeht, jedoch von den Beteiligten jeder für sich schuldhaft und rechtswidrig gehandelt hätte, wenn die schuldhafte Handlung (hier die Gewebeprobenvertauschung) bei ihm aufgetreten wäre – dem Kläger eine Beweiserleichterung zukommt. Es spiele vor diesem Hintergrund keine Rolle, bei wem die Gewebeprobenvertauschung aufgetreten ist. Beide Beteiligten, der Beklagte und der Nebenintervenient, hätten in jedem Fall einen Behandlungsfehler begangen. Abschließend befasste sich die Kammer noch mit der Frage nach der Unterbrechung des Kausalverlaufes, da die erste Operation trotz der bereits von dem Kläger begründeten Zweifel hinsichtlich der Gewebeprobenvertauschung durchgeführt worden war. Die Kammer führt hierzu aus, dass hinsichtlich der Indikation zur Operation der „harte“ schriftliche Befund, nämlich der histologische Befund des Nebenintervenienten vorgelegen haben, während die Äußerung des Klägers hingegen lediglich eine Vermutung darstellte. Insofern kam die Kammer zu dem Ergebnis, dass der Kausalzusammenhang im vorliegenden Fall nicht unterbrochen wurde.

Anmerkung des Autors:

Der Autor hat selber einen nahezu identischen Fall im Bereich der Zahnheilkunde betreut. In diesem Fall war es bei der Entfernung eines Zahnes durch zwei Behandler zu einem Nervenschaden gekommen. Die erste Behandlerin hatte versucht, den Zahn zu entfernen, wobei dieser zerbrochen ist, sodass diese lediglich noch den halben Zahn entfernen konnte. Umgehend wurde der Patient an einen Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgen überwiesen, der die andere Zahnhälfte entfernte. Erst nach beiden Eingriffen trat die Nervenverletzung in Erscheinung. Im Endeffekt konnte nicht festgestellt werden, von welchem der beiden Behandler die Schädigung gesetzt worden war; der Sachverständige führte aus, dass egal von wem die Schädigung gesetzt worden war, die Behandlung immer fehlerhaft gewesen wäre. Aus prozessökonomischen Gesichtspunkten sowie zur Vermeidung eines Urteils wurde hier ein Vergleich geschlossen, sodass hierzu letztendlich kein Urteil vorliegt. Es war jedoch davon auszugehen, dass das Urteil entsprechend dem Urteil des Landgerichts Göttingen ausgefallen wäre. Zurückkommend auf den ursprünglichen Sachverhalt ist jedoch anzumerken, dass es durchaus diskutabel ist, dass das Landgericht Göttingen hätte überprüfen müssen, ob auch Organisationsmängel bei dem Nebenintervenienten vorlagen.

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