BGH: Abgrenzung ärztlicher Befunderhebungsfehler und Mangel der therapeutischen Beratung
Der Bundesgerichtshof hat sich in seinem Urteil vom 11.04.2017 (Az. VI ZR 576/15) zum Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens in Bezug auf eine therapeutische Beratung einerseits und eine unterbliebene Befunderhebung andererseits geäußert. Dabei wurde an der Entscheidung vom 17.11.2015 (Az. VI ZR 476/14, VersR 2016, 260) festgehalten. Im vorliegenden Fall ging es um die Durchführung einer gynäkologischen Krebsvorsorgeuntersuchung, die einen PAPIII-Befund im zytologischen Abstrich ergeben hatte. Die Beklagte hatte daraufhin der Klägerin per Post jedenfalls ein Rezept für das Medikament Clont Vaginaltabletten übersandt, das u.a. der Aufhellung des Zellbildes am Gebärmutterhalskanal dient. Streitig ist, inwiefern zusätzlich zu diesem Rezept ein Anschreiben beigefügt war, mit dem die Klägerin über das Vorliegen eines kontrollbedürftigen Befundes unterrichtet und zur Wiedervorstellung aufgefordert wurde. Die Klägerin erschien erst sechs Monate später wieder in der Praxis der Beklagten. Es wurde sodann – in einem weiteren Termin – eine weitere Krebsvorsorgeuntersuchung durchgeführt, die erneut einen PAPIII-Befund ergab. Erneut rezeptierte die Beklagte die vorgenannten Vaginaltabletten. Vier Monate später wurde von Seiten der Beklagten ein erneuter Abstrich vorgenommen, der wieder den PAPIII-Befund ergab, weswegen die Beklagte nun die Klägerin unmittelbar in eine Dysplasie-Praxis überwies. Die dort durchgeführte Gewebeuntersuchung ergab ein Plattenepithelkarzinom der Cervix. In der Folge wurde die Klägerin insgesamt vier Mal an der Gebärmutter operiert. Während das Landgericht die Klage abgewiesen hatte, hatte das Kammergericht Berlin auf die Berufung der Klägerin der Klage durch ein als „Grund- und Teilurteil“ bezeichnetes Berufungsurteil teilweise stattgegeben und der Klägerin – unter Klageabweisung im Übrigen – ein Schmerzensgeld in Höhe von 15.000,- Euro zugesprochen sowie die Ersatzpflicht der Beklagten für alle zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden festgestellt. Der bereits entstandene materielle Schaden und die Nebenforderungen seien jedoch noch nicht zur Entscheidung reif. Der Bundesgerichtshof hat auf Revision der Beklagten das angefochtene Urteil des Kammergerichtes aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Zum einen habe ein Teilurteil nur ergehen dürfen, wenn die Gefahr einer widersprechenden Entscheidung auch infolge abweichender Beurteilung durch das Rechtsmittelgericht ausgeschlossen ist. Bei einer Mehrheit selbständiger prozessualer Ansprüche, zwischen denen materiell-rechtliche Verzahnungen bestehen oder die prozessual in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen – wie hier – bestehe allerdings die Gefahr, dass das Berufungsgericht bei einem späteren Schlussurteil – sei es aufgrund neuen Vortrages, sei es aufgrund geänderter Rechtsauffassung - abweichend zu dem vorherigen Urteil entscheidet. Zudem lasse sich der zugesprochene Schadensersatzanspruch nicht auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen mit der Annahme eines ärztlichen Befunderhebungsfehlers begründen. Es läge kein Befunderhebungsfehler vor, wenn die Klägerin zutreffend über das Vorliegen eines kontrollbedürftigen Befundes und die medizinisch gebotenen Maßnahmen einer weiteren Kontrolle informiert wurde und die Klägerin dieser Aufforderung lediglich nicht nachgekommen ist. Dann komme allenfalls das Vorliegen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur therapeutischen Beratung, etwa wegen eines unterlassenen Hinweises auf die Dringlichkeit der gebotenen Maßnahmen, in Betracht. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens liege nicht in der unterbliebenen Befunderhebung als solcher, sondern in dem Unterlassen von Warnhinweisen zum Zwecke der Sicherstellung des Behandlungserfolges. Die angenommene Pflichtwidrigkeit der Beklagten sei als einheitlicher Vorgang zu behandeln, weil die unterbliebene zeitnahe Befunderhebung unmittelbare Folge der behaupteten unzureichenden therapeutischen Beratung, hier des fehlenden Hinweises auf die Dringlichkeit der weiteren Abklärung des Befundes sei. Das Berufungsgericht habe zunächst aufzuklären, ob und wie die Beklagte die insoweit grundsätzlich darlegungs- und beweisbelastete Klägerin mit Übersendung des Rezeptes zusätzlich über das Vorliegen eines kontrollbedürftigen Befundes unterrichtet und zur Wiedervorstellung aufgefordert hat. Darüber hinaus sei für den Fall, dass sich der Vortrag der Klägerin nicht zur Überzeugung des Gerichtes beweisen lasse zu überprüfen, ob in dem unterlassenen Hinweis der Beklagten zur konkreten Diagnose und Dringlichkeit einer – ansonsten zutreffend anempfohlenen – weiteren Untersuchung ein einfacher oder grober Behandlungsfehler i. S. der therapeutischen Beratung zu sehen sei. Dabei sei das gesamte Behandlungsgeschehen zwischen Juni und Herbst 2007 in Blick zu nehmen und hinsichtlich der Unterrichtung über das Vorliegen eines kontrollbedürftigen Befundes sowohl die Behandlungsdokumentation als auch die Angaben der Parteien wie auch die der vom Landgericht vernommenen Zeugen zu berücksichtigen. Schließlich sei mit dem Sachverständigen mündlich zu erörtern und auch juristisch zu bewerten, inwiefern das Unterlassen eines Hinweises auf die konkrete Diagnose und die Dringlichkeit der weiteren Abklärung noch als fehlerfrei angesehen werden könne, nach den Umständen des Streitfalles jedoch eine Pflicht zur Kontrolle begründet war, ob die Patientin das mit Rezeptübersendung und im Anschreiben Gemeinte auch richtig verstanden und sich die Patientin zur weiteren Untersuchung gemeldet hat. Hierbei sei die Schwere der zu besorgenden Erkrankung neben dem Grad des Krankheitsverdachtes und dem freiwilligen Charakter einer Vorsorgeuntersuchung im besonderen Maße zu gewichten.