Dr. med. Inken Kunze

4. Sept. 20203 Min.

BSG: Vergütungsanspruch eines Krankenhauses für Behandlung mit Rituximab – wann liegt eine lebensbed

Das Bundessozialgericht hatte mit Urteil vom 19.03.2020 (Az. B 1 KR 22/18 R) über den Vergütungsanspruch eines Krankenhauses bei der Behandlung eines Patienten mit Rituximab zu entscheiden. Das vorhergehende Urteil des Landessozialgericht Hamburg wurde aufgehoben und das Verfahren an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Nach der Auffassung des 1. Senates des Bundessozialgerichts konnte aufgrund der vom Landessozialgericht festgestellten Tatsachen nicht abschließend darüber entschieden werden, ob dem Krankenhaus der Vergütungsanspruch für das Zusatzentgelt ZE 82.14 für die parenterale Gabe von Rituximab zusteht. Ob eine hierfür erforderliche grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts zu einem Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit Rituximab führen würde, konnte nicht abschließend festgestellt werden.
 

 
Der Versicherte litt unter einer blasenbildenden Immunerkrankung der Haut (Schleimhautpemphigoid); er war bereits zuvor mit hochdosierter Steroidtherapie, mit einem antibiotisch und entzündungshemmend wirksamen Arzneistoff (Dapson), mit einem immunsuppressiv wirksamen Arzneistoff (Azathioprin) und erneut mit Cortison behandelt worden, trotzdem war es zu einer erneuten Blasenbildung gekommen. Das klagende Krankenhaus hatte argumentiert, dass es aufgrund des Befalles großer Teile der Hautoberfläche mit Blasen, dem hohen Lebensalter und insbesondere der parallel durchgeführten immunsuppressive Therapie eine erhöhte Anfälligkeit für schnell und schwer verlaufende bakterielle Infektionen mit nachfolgender Sepsis (Blutvergiftung als schwerste Komplikation einer Infektion durch entgleiste körpereigene Abwehrreaktion gegen eigene Gewebe und Organe) gebe, d. h. bei Fortführung der bisherigen Therapie sich der Zustand des Patienten jederzeit in einen sich rasant entwickelnden und deshalb mit einiger Wahrscheinlichkeit unumkehrbaren und im Ergebnis tödlichen Prozess umschlagen könne. Das Landessozialgericht hatte mit Blick auf eine erhöhte Infektanfälligkeit und der daraus resultierenden Sepsisgefahr das Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung bejaht.
 

 
Das Bundessozialgericht befand allerdings, dass das Landessozialgericht hierzu einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab angelegt habe. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 (sogenanntes Nikolaus-Urteil, Anm. der Verf.) bestehe ein Anspruch auf Krankenversorgung in den Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung, wenn für sie eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht und die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspreche. Die Rechtsprechung des Bundessozialgericht habe in die grundrechtsorientierte Auslegung auch Erkrankungen einbezogen, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sind, wie etwa der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktionen. Das Landessozialgericht habe aber die Anforderungen an die Annahme einer notstandsähnlichen Situation abgesenkt und den Maßstab für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung verlassen. Hierfür sei es nämlich erforderlich, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit nach den konkreten Umständen des Falles verwirklichen werde. Die Möglichkeit des Eintritts einer schnell und schwer verlaufenden bakteriellen Infektion mit nachfolgender Sepsis reiche ohne eine konkrete Feststellung dazu, in welchem Ausmaß mit bakteriellen Infektionen beim Versicherten zu rechnen war, dass und gegebenenfalls in welchem Umfang Infektionen – unter Umständen trotz präventiver Gabe von Antibiotika – medikamentös nicht beherrschbar gewesen wären und wie hoch dann die Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Sepsis bei dem Versicherten gewesen wäre, nicht aus. Die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen genügten für die Annahme einer durch eine nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage in dem oben beschriebenen Sinne nicht aus. Sofern nach Ausschöpfung aller Beweismittel, etwa aufgrund fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse, eine konkrete Aussage über die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Krankheitsverlaufes nicht möglich sein sollte, wäre vom Landessozialgericht gegebenenfalls nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu entscheiden.
 

 
Inwieweit das Schleimhautpemphigoid einer lebensbedrohlichen Erkrankung deshalb wertungsmäßig gleichzustellen sei, weil durch eine mögliche Augenbeteiligung eine Erblindung drohe, könne ebenfalls nicht abschließend bewertet werden. Auch hier sei erforderlich, dass nach den konkreten Umständen des Falles der Verlust der Sehfähigkeit innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit drohe. Entscheidend sei nicht, wie häufig eine Beteiligung der Augen erfolgt, sondern ob, gegebenenfalls mit welcher Wahrscheinlichkeit und mit welcher Schwere dies beim Versicherten der Fall war. Entscheidend sei also, mit welcher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums Blindheit die Folge der Erkrankung ist und welcher konkreten Erblindungsgefahr gerade der Versicherte ausgesetzt war, bei dem nur große Bereiche der Hautoberfläche mit nahezu Aussparung des Gesichtes betroffen waren. Hinweise auf eine Beteiligung der Schleimhäute und der Augen seien dem Entlassungsbericht nicht zu entnehmen. Die Aussage des Sachverständigen, dass in 65 % der Fälle das Schleimhautpemphigoid mit einer Beteiligung der Augen einhergehe, reiche nicht aus.
 
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